13. November 2013
Aufbau einer afghanischen Dorfmiliz wichtiger Pfeiler der NATO-Strategie
— Von John Dyfed Loesche —
Unteroffizier William Wilson ahnte nichts von der Gefahr. Er sah den Schuss nicht kommen, der sich aus dem AK-47-Sturmgewehr löste. Ein afghanischer Polizist zielte auf den 27-jährigen US-Soldaten und drückte ab. Wilsons Kameraden, die ihn Billy nannten, erwiderten das Feuer und erschossen den Angreifer.
Der zuletzt in Grafenwöhr in der Oberpfalz stationierte Soldat starb Ende März in dem abgelegenen Bergdorf Marsak in der afghanischen Provinz Paktika. Zusammen mit Kameraden der Apache Kompanie 2-28 der 172. US-Infanteriebrigade näherte er sich einem Posten der sogenannten Afghanischen Lokalpolizei (ALP), als der Schütze das Feuer eröffnete.
Die ALP spielt eine tragende Rolle in der Sicherheitsstrategie der NATO während des schrittweisen Abzugs aus Afghanistan, der von kommendem Sonntag an zentrales Thema auf einem NATO-Gipfel in Chicago sein wird. Vorab berät sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem afghanischen Staatspräsidenten Hamid Karsai am (morgigen) Mittwoch in Berlin.
Grün gegen blau
Im Februar 2011 wurden drei Soldaten der Bundeswehr in Nordafghanistan Opfer eines Angriffs, bei dem ein afghanischer Rekrut seine Waffe gegen sie richtete. Im Militärjargon heißen diese Vorfälle „Green-on-Blue“, nach den jeweiligen Farben, mit denen eigene und befreundete Einheiten auf militärischen Lageplänen markiert sind.
In diesem Jahr wurden bei 16 derartigen Zwischenfällen bereits 22 ISAF-Soldaten getötet, im vergangenen Jahr waren es 37. Das Pentagon veröffentlichte im Januar einen Bericht, demzufolge seit 2007 schätzungsweise 80 NATO-Soldaten von afghanischen Sicherheitskräften getötet wurden. 75 Prozent der Angriffe ereigneten sich in den vergangen beiden Jahren.
Die Überfälle drohen die Abzugsstrategie der NATO auszuhöhlen, weil sie nicht nur Misstrauen zwischen ausländischen Soldaten und afghanischen Sicherheitskräften schaffen, sondern die Zuverlässigkeit der afghanischen Sicherheitskräfte insgesamt infrage stellen.
Militärisches Eingreifen nur noch im Notfall
Bereits im vergangenen Jahr erreichte das Kontingent der von der NATO geführten ISAF-Truppe die Obergrenze von 140.000 Soldaten. Bis September diesen Jahres wollen allein die USA als Haupttruppensteller mehr als 30.000 Soldaten abziehen und ihre Truppenstärke auf etwa 60.000 Soldaten reduzieren.
Alle NATO-Mitglieder wollen bis Ende 2014 ihre Kampftruppen aus Afghanistan abgezogen haben. Das heißt nicht, dass ab 2015 keine ausländischen Truppen mehr in Afghanistan stationiert sein werden. Die USA schlossen Anfang Mai ein bilaterales Abkommen mit Karsai, das den Verbleib von US-Truppen in Afghanistan nach 2014 regelt.
Doch die USA wollen fortan nur noch im Notfall ins militärische Geschehen eingreifen. Das Land selbst sollen die afghanischen Sicherheitskräfte halten. Neben dem Aufbau und der Ausbildung der Afghanischen Nationalarmee (ANA) und der Afghanischen Nationalpolizei (ANP) ist das auf lokaler Ebene vorangetriebene ALP-Programm daher wichtiger Baustein der NATO-Strategie.
Mithilfe der ALP will die ISAF verhindern, dass sich in den ländlichen Regionen ein Sicherheitsvakuum bildet, dass die Aufständischen ausfüllen, um Teile Afghanistans unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Aufbau der ALP berücksichtigt, dass der Zentralstaat samt seiner Institutionen wie Streitkräften und Polizei in weiten Teilen des Landes nicht präsent sein wird.
Fraglich ist, ob sich diese lokalen Paramilitärs unbedingt der Führung der Regierung in Kabul unterwerfen. In vielen Teilen des Landes, wie etwa in dem zerklüfteten und kargen Provinz Paktika, direkt an der Grenze zu Pakistan, gilt die Loyalität des Einzelnen weiterhin zuerst der Familie, dann dem Klan und Stamm. Die NATO läuft Gefahr, eine neue Generation lokaler Warlords auszubilden, statt Stabilität und Sicherheit zu schaffen.
Dieser Text wurde ursprünglich im Juni 2012 von der dapd veröffentlicht.
© 2024 John Dyfed Loesche | Theme by Eleven Themes
Leave a Comment
You must be logged in to post a comment.