13. Oktober 2011
— Von John Dyfed Loesche —
Der afghanische Polizist am Steuer kennt keine Gnade und gibt Vollgas. Die Reifen des Pritschenwagens verlieren auf der steilen Piste immer wieder den Halt und drehen durch. Der Wagen springt und bockt über Steine und Schlaglöcher bergauf. Die sechs Passagiere auf der offenen Ladefläche halten sich gegenseitig fest, um nicht abgeworfen zu werden.
Ein Polizist steht in der Mitte der Pritsche und hält sich an dem schweren Maschinengewehr fest, das auf dem Dach des Fahrzeugs befestigt ist. In der Kabine darunter sitzen zwei weitere Polizisten der Afghanischen Bundespolizei, ein Hauptmann des US-Heeres, ein Übersetzer und ein älterer Herr mit schwarzem Turban – der ehemalige Mudschaheddin Mullah Tuti.
Die Mission hatte am frühen Nachmittag recht gelassen begonnen. Der 28-jährige US-Hauptmann James Perkins brach mit seinen Soldaten der Apache Kompanie 2-28 von seinem Außenposten in der Provinz Paktika auf. Die Panzerfahrzeuge krochen im Schneckentempo die etwa 15 Kilometer auf der buckeligen Hauptverbindungsstraße Richtung Südosten entlang. Der Auftrag: ein Eisentor in das abgelegene Gebirgsdorf Schatowri liefern.
Ein Tor für den Frieden
Das Tor liegt auf der Ladefläche des Lastwagens im Konvoi. Die Mechaniker im Außenposten Sar Howsa haben es zusammengeschweißt. Es ist ein Geschenk an die Menschen von Schatowri. Es ist der Heimatort des 78-jährigen Mullah Tuti, nur 50 Kilometer von der Grenze zu Pakistan.
Die USA wissen, dass sie den Krieg in Afghanistan mit militärischen Mitteln nicht gewinnen werden. Bis 2014 sollen ihre Kampftruppen abgezogen sein. Nun wollen sie verhandeln, auch mit den Taliban, und suchen nach einflussreichen Vermittlern, die ihnen Zugang zum Gegner ermöglichen.
„Es gibt eindeutige Anzeichen, dass viele Aufständische an dem Integrationsprogramm teilnehmen wollen“, sagte Kompaniechef Perkins. Dass nicht alle verhandeln wollen, zeigte sich, als das Tor zwei Monaten zuvor im Juni bereits einmal die Reise nach Schatowri antrat. Der Konvoi geriet in einen Hinterhalt. Die Angreifer schossen mit Panzerfäusten und Gewehren. Ein Soldat kam ums Leben.
Sicherheit und Vertrauensbeweis
Die Fahrt hinauf zum Damm dauert etwa fünf Minuten. Die Gruppe ist ohne Funkkontakt, mit nur zwei US-Soldaten und zwei Gewehren, weit weg von dem Rest der Kompanie, außerhalb von Sicht- und Hörweite des Dorfes. Für die Taliban wären die Westler ein lukrativer Fang. Lösegelderpressung gehört zu ihren Einnahmequellen. Ob die afghanischen Polizisten sich unter Einsatz ihres Lebens für die Ausländer einsetzen würde, ist zweifelhaft. Andererseits ist der Mullah ein gefürchteter und respektierter Mann. Ein Talib begäbe sich beim Versuch, die Gäste dieses Mannes anzurühren, in ernsthafte Gefahr.
Der Friedensbringer
Mullah Tuti soll seinen Einfluss geltend machen, um den Friedensprozess voranzutreiben. Er soll die Ältesten, die Maliks, in der Grenzprovinz Paktika zur Kooperation mit den USA und der Zentralregierung in Kabul bewegen. Vor allem soll er seinen Einfluss die Aufständischen von Friedensverhandlungen überzeugen.
Tuti zeigt auf ein großes Stück Metal, das auf dem Abhang neben dem Damm liegt. „Das da kam aus Kabul. Es war nutzlos“, kommentiert er das ausgemusterte Metalltor. Dann zeigt er auf das Loch unten im Steindamm, das mit dem neuen Tor verschlossen werden soll, um das Wasser des Flusses aufzustauen. Zu dieser Jahreszeit ist der Fluss ein kümmerliches Rinnsal.
Tee in der Moschee
Der Mullah zieht sich zum Gebet in die Moschee zurück. Die Ausländer entledigen sich im Vorraum ihrer Schutzwesten, Helme und Stiefel und nehmen im Schneidersitz in einem der zwei mit rotem Teppich ausgelegten Räume auf dem Boden platzt. Tuti gesellt sich zu ihnen, setzt sich zwischen den Journalisten und den Kompaniechef.
Er beantwortet bereitwillig die erste Frage des Journalisten, ob er an einer Schura, dem Treffen am folgenden Tag im Distriktzentrum im Feldlager Sar Howsa teilnehmen werde. „Okay. Selbst, wenn ich keinen Wagen zur Verfügung habe. Ich werde den ganzen Weg zu Fuß gehen“, scherzt der Mullah.
Reagan und die Freiheitskämpfer
Tuti erzählt, wie er im Juni 1986 als militärischer Führer einer Mudschaheddin-Gruppe den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan in Washington besuchte. Die Harkat-i-Inqilab-i-Afghanistan, gegründet von Mohammad Nabi Mohammadi, war eine von sieben afghanischen Widerstandsgruppen, die von Washington für den Kampf gegen die Russen finanziert wurden – die sogenannten „Peshawar Sieben“.
Was den Friedensprozess betreffe, sei nicht er nicht sehr optimistisch, sagt Tuti. „Ich bin für den Frieden, aber die Bedingungen der Amerikaner und der Taliban sind unrealistisch“. Es gehe zudem nicht um die Taliban, es gehe um Pakistan. „Ich reise jedes Jahr nach Pakistan und treffe auf Taliban-Führer. Ich sage ihnen: ‚Pakistan hat euer Land zerstört. Warum seid ihr so naiv?'“. Pakistan sei der Schlüssel zum Frieden, ist sich Tuti sicher.
Zum Abschluss schlägt der Mullah vor, er könne ein paar Ziegen schlachten. Seine Gäste seien eingeladen, die Nacht in seiner Obhut zu verbringen, das gebiete der Paschtunwali, der Ehrenkodex der Paschtunen. Kompaniechef Perkins kann glaubhaft versichern, dass im Feldlager noch Arbeit warte, die erledigt werden müsse. Die Unterstützung des Mullahs scheint dennoch gesichert.
Dieser Text wurde ursprünglich im Oktober 2011 von der dapd veröffentlicht.
Schlagwörter: Afghanistan, Krieg, Mullah
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